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Kyudo, der Weg des Bogens, hat vieles gemeinsam mit der japanischen Teezeremonie (Chado), Kalligraphie (Shado), Schwertziehen (Iaido) und vielen anderen Wegen, die so eindrucksvoll das Herz und den Geist des Japaners wiederspiegeln. Kyudo ist reich an Geschichte und Tradition und ist sehr hoch geachtet in Japan. Viele betrachten Kyudo als einer der reinsten Wege aller budo (Kampfsport). In der Vergangenheit wurde der Bogen für verschiedene Zwecke verwendet: Jagd, Krieg, Hofspiele und -rituale, religiöse Zeremonien und Wettkämpfe. Viele dieser Spiele und Rituale überlebten bis heute, aber der japanische Bogen hat vor langer Zeit seinen praktischen Wert als Waffe verloren. Heute wird Kyudo hauptsächlich zur körperlichen, moralischen und spirituellen Entwicklung praktiziert.

Kyudo, wird oft gesagt, ist wie das Leben selbst: Vielseitig und paradox und wiedersetzt sich somit einer einfachen Definition. Fragt man einen Anfänger, was Kyudo ist, bekommt man möglicherweise eine detaillerte Erklärung zu den technischen oder geistigen Aspekten des Schiessens. Fragt man aber einen Meister dieser Kunst, wird er gewöhnlicherweise mit einem einfachen "ich weiss nicht" antworten. Er ist weder ausweichend noch falsch bescheiden. Im Gegenteil, seine Antwort reflektiert ein Verständnis der Komplexität und Tiefe des Kyudos. Er erkennt, dass vieles in Kyudo rätselhaft und unerklärlich bleibt, auch wenn er dies ein lebenlang übte.
Was aber zwingt jemanden dann, fünfzig, sechzig oder sogar siebzig Jahre Kyudo zu üben, wenn er weiss, dass er es niemals wirklich verstehen wird? Die einfache Antwort ist, dass er nicht so sehr übt, um die Kunst als solche zu verstehen, vielmehr um sich selber besser verstehen zu lernen.

Wahrheit, Güte und Schönheit

Seit der Mensch zum ersten Mal logisches Denken erlangte, versucht er seine Menschlichkeit zu verstehen; Er versucht diese Eigenschaften zu isolieren und zu definieren, die ihn von anderen Lebewesen unterscheiden. Natürlich ist der Mensch mit einem überlegenen Intellekt gesegnet, aber was ihn wirklich unterscheidet, ist seine unbeschränkte kreative Fähigkeit. Viele Tiere sind Baumeister und ein paar wenige können sogar einfachste Werkzeuge gestalten, aber nur der Mensch kann konzeptionell kreieren. Das Resultat dieser Fähigkeit - Wissenschaft, Philosophie, Religion und Kunst - sind alles Produkte der einzigartigen Faszination des Menschen, der drei schwer zu begreifenden Tugenden: Wahrheit, Güte und Schönheit. In Kyudo ist das Streben nach diesen Tugenden ein bedeutendes Element.

Übersetzt aus dem Buch Kyudo - The Essence and Practice of Japanese Archery, von Hideharu Onuma mit Dan und Jackie DeProspero.